„Wir schreiben ‚Lost‘ für unsere Mütter“


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    Randy Taylor
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    In den USA läuft die dritte Staffel der erfolgreichen TV-Serie „Lost“ – noch immer rätseln die Zuschauer, worum es eigentlich geht. Die Produzenten Damon Lindelof und Carlton Cuse sprachen mit SPIEGEL ONLINE über Rätsel, die man besser nicht löst, und die politische Relevanz ihrer Arbeit.

    SPIEGEL ONLINE: „Lost“ hat die amerikanische TV-Landschaft beeinflusst wie zuvor schon lange keine Serie mehr. Haben Sie mit dieser bahnbrechenden Wirkung gerechnet?

    Lindelof: „Lost“ war nie als Mega-Hit konzipiert, sondern als Kultsendung wie „Buffy“ oder „Alias“. Aber irgendwie wurde „Lost“ größer, sogar meine Mutter schaute sich die Serie an, und das war ein echter Schock für mich. Ich fragte sie: Warum guckst du das? Die Serie ist völlig verrückt, es gibt ein mysteriöses Monster und diese ominöse „Dharma-Initiative“. Sie sagte: Ich liebe die Figuren!

    Cuse: Zusammenfassend gesagt: Wir schreiben diese Sendung für unsere Mütter…

    Lindelof: Für die Mutter des jeweils anderen!

    Cuse: Unsere beiden Mütter heißen Sue, und so lange die beiden Sues glücklich sind, sind wir es auch.

    SPIEGEL ONLINE: Wie weit blicken Sie als Autoren in die Zukunft der Geschichte?

    Lindelof: Schon seit wir den Pilotfilm schrieben, führen JJ Abrams, Carlton Cuse und ich eine andauernde Unterhaltung über die übergreifende Struktur der Serie. Damals wussten wir bereits, dass unsere Gestrandeten einen Bunker finden würden, auch wenn das noch elf Episoden dauern würde. Und bereits während der ersten Staffel mussten wir uns überlegen, wie lange diese Insel schon von Menschen besucht wird, und welche Hinweise es darauf geben würde. Was, wenn sie eine riesige Statue finden würden? Wir wollten, dass das Publikum ein Gefühl dafür bekommt, dass hier noch mehr los ist, und wir mussten recht bald das Grundgerüst dafür bauen.

    SPIEGEL ONLINE: Wie viele Menschen sind in diese Überstruktur eingeweiht?

    Cuse: Nur Damon, JJ und ich.

    SPIEGEL ONLINE: Sie hantieren mit einem der umfangreichsten Ensembles der Fernsehgeschichte. Und dennoch lassen Sie hin und wieder zentrale Figuren über die Klinge springen, um Platz für Neuzugänge zu schaffen…

    Cuse: Der Tod ist Teil dieser Serie, denn damit ein dramatisches Ereignis zur realistischen Bedrohung wird, muss man es unter Umständen auch durchziehen. Wenn jemand David Caruso aus „CSI: Miami“ eine Knarre an den Kopf hält, kann man sich ziemlich sicher sein, dass er das überleben wird. Wir wollen dagegen, dass man Gefahr für realistisch hält. Neue Figuren sind wichtig, denn darum geht es im Herzen von „Lost“: um das Mysterium der Figuren. Wenn wir nicht neue hinzunehmen, können wir das nicht entwickeln. Den meisten Spaß haben wir dabei, die Hintergrundgeschichte einer Figur zu entwickeln, den ersten kleinen Flashback, der enthüllt, dass Hurley einen Lottogewinn eingestrichen hat oder John Locke im Rollstuhl saß.

    SPIEGEL ONLINE: Wie wichtig war es Ihnen, einen Iraker in der Geschichte zu haben?

    Lindelof: JJ und ich haben den „Lost“-Piloten im Januar 2004 geschrieben. Das war etwa vier oder fünf Monate, nachdem sich George W. Bush auf den Flugzeugträger gestellt und „Mission accomplished“ gesagt hatte. Aber in Amerika machte sich das Gefühl breit, dass dies ein Weilchen länger dauern könnte, als man uns versprochen hatte. Im Rahmen der Idee von lauter Leuten auf einem internationalen Flug, bei denen der Schein nicht unbedingt dem Sein entspricht, sahen wir in dieser Figur einen spannenden politischen Kommentar.

    SPIEGEL ONLINE: Inwiefern?

    Lindelof: Nur weil einer ein Iraker und ein Held ist, heißt das noch lange nicht, dass er nicht selbst einige schlimme Dinge verbrochen hat. Wie ist Sayid zu seinen Kenntnissen gekommen? Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei? Das ist ein wichtiges Thema in „Lost“: Was macht diese Menschen zu dem, was sie sind? Ist es ihr Wesen, oder hat etwas anderes sie kaputt gemacht? Sind Sie auf dem Eiland, um Erlösung von den Fehlern anderer zu finden? Was ist der freie Wille? Wie viel Kontrolle hält die Vergangenheit über uns? Sayid schien die perfekte Verkörperung dieses Topos.

    SPIEGEL ONLINE: Ist es Ihr Anliegen, den Krieg im Irak zu kommentieren?

    Cuse: Ich glaube nicht, dass wir ihn im Detail kommentieren, sondern eher allgemein die Tendenz, andere Kulturen und Gruppen, die uns fremd vorkommen, mit einer gewissen Skepsis oder Angst oder Vorurteilen zu betrachten. Wir haben die „Anderen“ als die Bösen eingeführt. Das Publikum wird gewisse Erwartungen an sie haben, aber je mehr wir ihre Welt kennen lernen, desto mehr werden wir verstehen dass hier eine viel komplexere Dynamik als zunächst erwartet im Gange ist.

    Lindelof: Für uns ist der Krieg im Irak ein doppelbödiges Unterfangen. Wir haben Truppen im Irak, die bemüht sind, eine Art von Frieden aufrecht zu erhalten, aber wir führen eigentlich keinen Krieg gegen den Irak. Das ist eine seltsame Situation, mit der wir auch in unserer Serie spielen. Wer sind diese „Anderen“, gegen die wir unseren Krieg gegen den Terror führen? Attackieren sie uns? Bei „Lost“ haben die „Anderen“ erst einen von uns umgebracht, während wir inzwischen sieben oder acht von ihnen getötet haben. Blicken wir also einmal aus ihrer Perspektive auf die Dinge: Wie sieht eigentlich die andere Seite der Medaille aus? Das ist unsere Frage an das amerikanische Bewusstsein.

    SPIEGEL ONLINE: Werden Sie jemals das Rätsel um die geheimnisvollen Zahlen lösen?

    Lindelof: Ich verweise auf den großen Fehler des zweiten „Matrix“-Films: Da geht Keanu Reeves in einen Raum, in dem ein bärtiger Mann namens „Der Architekt“ sitzt und alles erklärt, was in den Filmen passiert ist – und was im nächsten passieren wird. Das fand ich auf einfach jeder Ebene enttäuschend, weil es jede coole Theorie zunichte machte, die ich mir in Bezug auf die Filme zusammengereimt hatte. Für mich ist eine der tollen Dinge an „Lost“, dass jeder Zuschauer seine eigenen Theorien mitbringt, durch deren Linse er die Ereignisse sieht. Wer ein gläubiger Mensch ist, sieht vielleicht eine religiöse Serie, der Rationalist ordnet die Dinge womöglich mehr in einem wissenschaftlichen Universum an. Wenn wir jetzt hingehen und sagen: Weder noch, und die Zahlen erklären, machen wir nur alle unsere Zuschauer sauer. Wir sagen lieber: Schaut mal, hier sind diese Zahlen, die tauchen dauernd wieder auf und scheinen die Leben einiger Leute nachchaltig zu beeinflussen. Was hat das wohl zu bedeuten? Statt zu sagen: Dies oder das hat es zu bedeuten.

    SPIEGEL ONLINE: Und das Mysterium um die Dharma-Initiative?

    Lindelof: Für unsere Figuren sind diese Dinge zwar interessant, aber nur mittelbar relevant, weil es ihnen in erster Linie nicht darum geht, wer Alvar Hanso ist und wie all diese Dinge hierher kamen, sondern ob der Knopf jetzt gedrückt werden muss oder nicht. Ebenso ist die Vanzetti-Gleichung für unsere Gestrandten von untergeordneter Bedeutung – auch wenn die Zuschauer mehr darüber wissen möchten, und deswegen haben wir die „Lost Experience“ im Internet geschaffen. Wir Autoren sitzen ja selbst da und sagen: Coole Einfälle, und schade eigentlich, dass dies niemals Teil der Serie sein kann, weil es unseren Müttern egal sein wird. Auf die Gefahr hin, dass ich das zum running gag mache – aber meine Mutter sagt sich: Alvar wer? Ich will wissen, wann Kate und Sawyer sich endlich küssen!

    SPIEGEL ONLINE: Gibt es Erzählstränge, auf die Sie rückblickend lieber verzichtet hätten?

    Lindelof: Ja, hin und wieder haben wir Dinge in der Serie, die einfach nur das sind, was sie sind. Aber weil es nun einmal „Lost“ ist, und wir unser Publikum gewissermaßen trainiert haben, all diese Ostereier zu suchen, wird jede Flasche Wasser zum geheimnisvollen Hinweis auf eine tiefere Wahrheit – da sagen Leute: Ich habe sie auf meinem Bildschirm vergrößert und das Jahr 2006 gefunden, aber die Serie spielt doch 2004, was bedeutet das? Es bedeutet natürlich nur, dass unser Ausstatter geschlafen hat.

    Das Interview führte Nina Rehfeld

    Wissenswertes rund um Lost:

    Neben der Echtzeit- Serie „24“ gehört „Lost“ zu den revolutionärsten neuen TV- Formaten aus den USA. Erzählt wird die Geschichte einer Gruppe Überlebender eines Flugzeug- Absturzes auf einer Pazifik- Insel, die zunächst unbewohnt erscheint.

    In Rückblenden werden die Schicksale der einzelnen Charaktere nach und nach aufgerollt, während auf der Insel mysteriöse Dinge passieren. Eine „Dharma Initiative“ scheint Versuchsreihen vorzunehmen – und eine weitere Gruppe Menschen, die „Anderen“ genannt, bewohnt das Eiland und reagiert feindselig auf die Neuankömmlinge. Eine Rolle spielen auch die Zahlen 4, 8, 15, 16, 23 und 42 – aber wie bei fast allen Aspekten der spannenden Mystery- Serie gilt: Man weiß nicht, was es bedeuten soll.

    Seit 2004 wurden zwei Staffeln der mit einem Emmy und einem Golden Globe ausgezeichneten Serie ausgestrahlt, in den USA startete Ende Oktober die dritte. Im Internet befassen sich inzwischen zahlreiche Foren und Blogs mit Theorien über den vermeintlichen Subtext der Serie und ihrer ungelösten Rätsel. In Deutschland ist die zweite Staffel von „Lost“ seit September auf ProSieben zu sehen.

    Quelle: http://www.spiegel.de

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